Um nachher gleich richtig loslegen zu können, am Anfang nur noch ein paar Dinge für das Protokoll. Der Fokus in dieser Uniwoche lag auf den Mid-term Examen im Japanischkurs, welche für mich zum Glück mit meinem Vorwissen recht leicht zu überstehen waren. Auch in meiner Vorlesung über Architektur und Bauingenieurswesen gibt es nichts Interessantes zu berichten, ich weiß jetzt lediglich, wie ein Verkehrskontrollzentrum vom Besucherraum aussieht, da gibt es halt viele Monitore.
Die eigentliche
Geschichte findet aber am Samstag dieser Woche statt. Erst am Vorabend habe ich
zusammen mit Vincent und Paulina, die in Warschau Architektur studiert, spontan
einen Plan für einen Wanderausflug ausgearbeitet. Zusammen mit Daniel und
Marco, der in Wien Medizin studiert, fahren wir am frühen Samstagmorgen (mit
Paulina ließ sich nichts Späteres als sieben Uhr verhandeln) nach Maibara, einer
Stadt, die gut eine Zugstunde nordöstlich von Nagoya am Fuß vom Mount Ibuki gelegen
ist.
Im
Zug gibt es für mich, nun fast schon traditionell, ein zweites Frühstück mit selbstgemachtem
Brot von Vincents Mutter, weiteren Proviant wollen wir in Maibara kaufen. Dort
angekommen stellen wir schnell fest, dass der Stadtteil von Maibara, wo wir aussteigen,
mehr wie ein kleines verschlafenes Dörfchen aussieht. Dass macht sich schon
beim Verlassen des Bahnhofes bemerkbar, da wir nicht mit unseren NFC-Fahrkarten
auschecken können. Anstatt dessen bekommen wir einen Zettel vom
Bahnhofsvorsteher, mit dem wir später in Nagoya bezahlen sollen. Vertrauen in
die Ehrlichkeit ihrer Mitbürger haben die Japaner definitiv. Unsere Annahme,
dass es in Japan in jedem 1000-Einwohner-Dorf einen Seven Eleven
(Konbini/Mini-Supermarkt) geben müsste, scheint sich hingegen als nicht sehr
standhaft zu erweisen. Erst nach einigen Kilometern finden wir das erlösende
Straßenschild, das uns in 1,2 km einen Konbini verspricht. Auf unserem Weg
dorthin kommen wir an einigen noch recht jung wirkenden Industrieruinen vorbei,
wie etwa einem alten Förderband, das früher einmal Rohstoffe vom Berg ins Tal
befördert haben muss. Den Konbini gibt es hingegen tatsächlich noch.
Ausgestattet mit Sushi, Obst, Keksen und einem Gipfelbier schreiten wir in Richtung
des Fußes des Berges. Dort angekommen machen wir uns für den gut 1000 Meter hohen
Anstieg zum Gipfel des Ibukiyama in 1377 Metern Höhe bereit. Im Falle von Marco
heißt dass, Rucksackinhalte auf uns andere aufteilen, Laufschuhe festschnüren
und losgesprintet. Als Bayer aus Wien hat er sich vorgenommen, den Berg gleich
auf seine Tauglichkeit als Laufstrecke zu testen, mal sehen wann er uns wieder
vom Gipfel aus entgegen kommt. Uns anderen vieren reicht auch schon das normale
Tempo. Wie schon letzte Woche an der Burg in Gifu, gehen die paar ersten
hundert Meter noch durch nass feuchtes bewaldetes Terrain, bevor wir dann ab
ca. 500 Metern den offenen Blick auf den Gipfel erhalten. Verglichen mit
Daniels Erfahrungen vom Wandern in Taiwan, kommen uns viele Einheimische
entgegen, die schon beim Sonnenaufgang den Aufstieg begonnen haben müssen. In
Taiwan wären laut Daniel die westlichen Touristen spätestens ab 500 Metern Anstieg
weitestgehend unter sich gewesen. Hier kommen uns aber sowohl jung als auch alt
entgegen, alle grüßen freundlich und wir grüßen zurück. Nach ca. 2/3 des
Anstieges kommt uns dann auch schon Marco wieder entgegen, gar nicht so
erschöpft, aber recht durstig. Zumindest beim Trinken enttäuscht uns die japanische
Infrastruktur nicht. Auch am Berg gibt es noch auf 900 Metern einen
Getränkeautomaten, mit Kühlung versteht sich. Marco warnt uns schon vor, dass
die letzte Etappe recht schwierig werden würde, da war jedenfalls für ihn mit Laufen
Schluss. Das soll uns aber nicht abschrecken und so gehen wir das letzte Drittel
an. Tatsächlich wird der Pfad auf den letzten Metern immer schmaler, bis er schließlich
ganz verschwindet und wir nur noch über blanken Fels klettern. Am Ende werden
wir mit einer grandiosen Aussicht und mindestens acht Windstärken auf dem
Gipfel belohnt. Wir suchen uns ein windschattiges Plätzchen, wo wir Mittag
essen können,ohne gleich festzufrieren. Das Gipfelbier lässt sich hingegen noch
praktisch in ein paar Minuten runter kühlen. Den imposantesten Teil der
Aussicht bildet der See Biwa, welcher nur ca. 15 Kilometer vom Gipfel entfernt liegt,
denn der See ist mit einer Oberfläche von über 670 km² der größte Süßwassersee Japans
(zum Vergleich, der Bodensee hat nur eine Oberfläche von gut 530 km²).
Nachdem
wir die Sicht in alle Himmelsrichtungen genügend genossen haben, geht es wieder
bergab. Mittlerweile sind wir fast alleine am mäusestillen Berg, nur vereinzelt
sehen wir ein paar Japaner vor und hinter uns am Hang. Auf halber Strecke
machen wir nochmal etwas länger Halt. Schon beim Aufstieg waren uns die alten
Gebäude einer Skiliftanlage aufgefallen. Bis vor einigen Jahren war der Lift
auch noch in Betrieb, jedoch wurde dann das Skigebiet aufgegeben, vielleicht
weil es zu unwirtschaftlich wurde, die bis zu 11 Meter Schnee im Winter von den
Pisten zu räumen. Vielleicht ist die Skisaison durch den Klimawandel aber auch
zu kurz geworden, zumindest in diesem Jahr liegt Ende November selbst auf dem
Gipfel noch kein Zentimeter Schnee. In fast vollständiger Stille erkunden wir
das Gelände um die alte Gondelstation und ein weiteres Haus, das früher einmal
ein Hotel inklusive Raststätte gewesen sein muss. Alles sieht so aus, also ob
es einfach plötzlich an Ort und Stelle liegen gelassen worden ist. Die Karte
mit den Abfahrten am Berg ist noch genauso vorhanden, wie die Möblierung in der
Gaststube. Jedoch haben Wind und Wetter schon merkliche Spuren hinterlassen.
Als wir uns schließlich der Gondelhalle nähern, werden wir noch neugieriger.
Eingeladen durch eine halb offen stehende Tür, krabbeln wir in die alte Halle hinein.
Tatsächlich hängen hier noch alle Gondeln, welche gar nicht allzu alt aussehen.
Hier und da liegt noch Werkzeug herum, aber der Putz von den Wänden bröckelt
bereits etwas ab, sogar das Tor für die Gondeln an der Front der Halle ist noch
geöffnet, durch das die letzten Sonnenstrahlen ins Innere fallen. Ein absolut
surrealer Ort, wie ich ihn sonst nur aus
Open-World-Games von osteuropäischen Spielentwicklern kenne. Ein wahrer Forgotten
Place, oder Haikyo wie die Japaner sagen würden. Wir machen noch so viele
Fotos, wie es die Dämmerung zulässt, bevor wir den Abstieg fortsetzen.
Mittlerweile ist die Sonne schon vollständig untergegangen und die Lichter der
Dörfer und Städte im Tal gehen an. Besonders der Blick auf den See Biwa ist nun
noch traumhafter, wo der Uferumriss durch die vielen kleinen Lichtpunkte nachgezeichnet
wird. Aber auch auf unserem Pfad bergab wird es zunehmend dunkler, gut dass wir
Batterie-Packs für unsere Smartphones mitgenommen haben, sodass deren LEDs uns
den Weg weisen können.
An
der letzten Hütte vor dem Tal müssen wir uns nochmal entscheiden, welchen Weg
wir zurück zum Bahnhof nehmen wollen. Entweder den, auf welchem wir gekommen
sind, oder einen gut zwei Kilometer kürzeren, den uns Google empfiehlt. Trotz
des in der Dunkelheit nicht genau zu erkennenden Wegverlaufes, entscheiden wir
uns für den Kürzeren. Zunächst ist der Pfad noch als solcher erkennbar, jedoch
wuchert dieser nach der Hälfte weiter und weiter zu. Auch die Wegweiser sehen
so aus, als ob sie schon etwas länger alleine in der Gegend stehen. Schließlich
können wir uns einen Weg aus dem Dschungel auf eine Straße bahnen, Asphalt kann
so etwas Schönes sein. Einige Meter weiter halten wir nochmals kurz inne. Am
Straßen rand steht ein gut 1 m x 1 m x 2 m großer Käfig, eine recht große Lebendfalle.
Wir erinnern uns an ein einziges Schild, dass wir ganz am Beginn des Aufstieges
gesehen haben, welches uns vor Bären gewarnt hat. Gut, dass wir uns immer noch
laut genug unterhalten und etwas Radau im Wald gemacht haben, um unliebsame
Begegnungen zu vermeiden. Angekommen im Dorf müssen wir nur noch die letzten
Meter über die Reisfelder schaffen, bevor wir den Bahnhof erreichen. Wir kommen
auch an einem alten Getreidesilo vorbei, das vom leichten Wind anscheinend zaghaft
zum Klappern gebracht wird. Je näher wir jedoch kommen, bemerken wir, dass die
Geräusche eher aus der Nähe des Feldes kommen. Ein paar Meter davor erkennen
wir, dass es sich wieder um eine Falle handelt, diesmal geschlossen. Ehrfürchtig
beschließen wir, doch lieber den kleinen Umweg über die Hauptstraße zu nehmen,
wobei Daniel und ich doch versucht sind umzukehren, um uns die Situation nochmal
aus der Nähe betrachten zu können. Marcos Einwand, dass das, was auch immer in
der Falle ist, nicht alleine unterwegs gewesen sein könnte, müssen wir jedoch
zustimmen und beschließen, unser Glück für diesen Tag nicht überzustrapazieren.
Letztlich kommen wir erschöpft, aber wohlbehalten am Bahnhof an und fahren
zurück nach Nagoya. Im Gepäck haben wir fantastische und surreale Fotos, eine
Abenteuergeschichte und wunderschöne Erinnerungen, die noch lange erhalten
bleiben werden.
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