Montag, 23. November 2015

Abenteuermärchen


Um nachher gleich richtig loslegen zu können, am Anfang nur noch ein paar Dinge für das Protokoll. Der Fokus in dieser Uniwoche lag auf den Mid-term Examen im Japanischkurs, welche für mich zum Glück mit meinem Vorwissen recht leicht zu überstehen waren. Auch in meiner Vorlesung über Architektur und Bauingenieurswesen gibt es nichts Interessantes zu berichten, ich weiß jetzt lediglich, wie ein Verkehrskontrollzentrum vom Besucherraum aussieht, da gibt es halt viele Monitore.

Die eigentliche Geschichte findet aber am Samstag dieser Woche statt. Erst am Vorabend habe ich zusammen mit Vincent und Paulina, die in Warschau Architektur studiert, spontan einen Plan für einen Wanderausflug ausgearbeitet. Zusammen mit Daniel und Marco, der in Wien Medizin studiert, fahren wir am frühen Samstagmorgen (mit Paulina ließ sich nichts Späteres als sieben Uhr verhandeln) nach Maibara, einer Stadt, die gut eine Zugstunde nordöstlich von Nagoya am Fuß vom Mount Ibuki gelegen ist.

Im Zug gibt es für mich, nun fast schon traditionell, ein zweites Frühstück mit selbstgemachtem Brot von Vincents Mutter, weiteren Proviant wollen wir in Maibara kaufen. Dort angekommen stellen wir schnell fest, dass der Stadtteil von Maibara, wo wir aussteigen, mehr wie ein kleines verschlafenes Dörfchen aussieht. Dass macht sich schon beim Verlassen des Bahnhofes bemerkbar, da wir nicht mit unseren NFC-Fahrkarten auschecken können. Anstatt dessen bekommen wir einen Zettel vom Bahnhofsvorsteher, mit dem wir später in Nagoya bezahlen sollen. Vertrauen in die Ehrlichkeit ihrer Mitbürger haben die Japaner definitiv. Unsere Annahme, dass es in Japan in jedem 1000-Einwohner-Dorf einen Seven Eleven (Konbini/Mini-Supermarkt) geben müsste, scheint sich hingegen als nicht sehr standhaft zu erweisen. Erst nach einigen Kilometern finden wir das erlösende Straßenschild, das uns in 1,2 km einen Konbini verspricht. Auf unserem Weg dorthin kommen wir an einigen noch recht jung wirkenden Industrieruinen vorbei, wie etwa einem alten Förderband, das früher einmal Rohstoffe vom Berg ins Tal befördert haben muss. Den Konbini gibt es hingegen tatsächlich noch. Ausgestattet mit Sushi, Obst, Keksen und einem Gipfelbier schreiten wir in Richtung des Fußes des Berges. Dort angekommen machen wir uns für den gut 1000 Meter hohen Anstieg zum Gipfel des Ibukiyama in 1377 Metern Höhe bereit. Im Falle von Marco heißt dass, Rucksackinhalte auf uns andere aufteilen, Laufschuhe festschnüren und losgesprintet. Als Bayer aus Wien hat er sich vorgenommen, den Berg gleich auf seine Tauglichkeit als Laufstrecke zu testen, mal sehen wann er uns wieder vom Gipfel aus entgegen kommt. Uns anderen vieren reicht auch schon das normale Tempo. Wie schon letzte Woche an der Burg in Gifu, gehen die paar ersten hundert Meter noch durch nass feuchtes bewaldetes Terrain, bevor wir dann ab ca. 500 Metern den offenen Blick auf den Gipfel erhalten. Verglichen mit Daniels Erfahrungen vom Wandern in Taiwan, kommen uns viele Einheimische entgegen, die schon beim Sonnenaufgang den Aufstieg begonnen haben müssen. In Taiwan wären laut Daniel die westlichen Touristen spätestens ab 500 Metern Anstieg weitestgehend unter sich gewesen. Hier kommen uns aber sowohl jung als auch alt entgegen, alle grüßen freundlich und wir grüßen zurück. Nach ca. 2/3 des Anstieges kommt uns dann auch schon Marco wieder entgegen, gar nicht so erschöpft, aber recht durstig. Zumindest beim Trinken enttäuscht uns die japanische Infrastruktur nicht. Auch am Berg gibt es noch auf 900 Metern einen Getränkeautomaten, mit Kühlung versteht sich. Marco warnt uns schon vor, dass die letzte Etappe recht schwierig werden würde, da war jedenfalls für ihn mit Laufen Schluss. Das soll uns aber nicht abschrecken und so gehen wir das letzte Drittel an. Tatsächlich wird der Pfad auf den letzten Metern immer schmaler, bis er schließlich ganz verschwindet und wir nur noch über blanken Fels klettern. Am Ende werden wir mit einer grandiosen Aussicht und mindestens acht Windstärken auf dem Gipfel belohnt. Wir suchen uns ein windschattiges Plätzchen, wo wir Mittag essen können,ohne gleich festzufrieren. Das Gipfelbier lässt sich hingegen noch praktisch in ein paar Minuten runter kühlen. Den imposantesten Teil der Aussicht bildet der See Biwa, welcher nur ca. 15 Kilometer vom Gipfel entfernt liegt, denn der See ist mit einer Oberfläche von über 670 km² der größte Süßwassersee Japans (zum Vergleich, der Bodensee hat nur eine Oberfläche von gut 530 km²).

Nachdem wir die Sicht in alle Himmelsrichtungen genügend genossen haben, geht es wieder bergab. Mittlerweile sind wir fast alleine am mäusestillen Berg, nur vereinzelt sehen wir ein paar Japaner vor und hinter uns am Hang. Auf halber Strecke machen wir nochmal etwas länger Halt. Schon beim Aufstieg waren uns die alten Gebäude einer Skiliftanlage aufgefallen. Bis vor einigen Jahren war der Lift auch noch in Betrieb, jedoch wurde dann das Skigebiet aufgegeben, vielleicht weil es zu unwirtschaftlich wurde, die bis zu 11 Meter Schnee im Winter von den Pisten zu räumen. Vielleicht ist die Skisaison durch den Klimawandel aber auch zu kurz geworden, zumindest in diesem Jahr liegt Ende November selbst auf dem Gipfel noch kein Zentimeter Schnee. In fast vollständiger Stille erkunden wir das Gelände um die alte Gondelstation und ein weiteres Haus, das früher einmal ein Hotel inklusive Raststätte gewesen sein muss. Alles sieht so aus, also ob es einfach plötzlich an Ort und Stelle liegen gelassen worden ist. Die Karte mit den Abfahrten am Berg ist noch genauso vorhanden, wie die Möblierung in der Gaststube. Jedoch haben Wind und Wetter schon merkliche Spuren hinterlassen. Als wir uns schließlich der Gondelhalle nähern, werden wir noch neugieriger. Eingeladen durch eine halb offen stehende Tür, krabbeln wir in die alte Halle hinein. Tatsächlich hängen hier noch alle Gondeln, welche gar nicht allzu alt aussehen. Hier und da liegt noch Werkzeug herum, aber der Putz von den Wänden bröckelt bereits etwas ab, sogar das Tor für die Gondeln an der Front der Halle ist noch geöffnet, durch das die letzten Sonnenstrahlen ins Innere fallen. Ein absolut surrealer Ort, wie ich  ihn sonst nur aus Open-World-Games von osteuropäischen Spielentwicklern kenne. Ein wahrer Forgotten Place, oder Haikyo wie die Japaner sagen würden. Wir machen noch so viele Fotos, wie es die Dämmerung zulässt, bevor wir den Abstieg fortsetzen. Mittlerweile ist die Sonne schon vollständig untergegangen und die Lichter der Dörfer und Städte im Tal gehen an. Besonders der Blick auf den See Biwa ist nun noch traumhafter, wo der Uferumriss durch die vielen kleinen Lichtpunkte nachgezeichnet wird. Aber auch auf unserem Pfad bergab wird es zunehmend dunkler, gut dass wir Batterie-Packs für unsere Smartphones mitgenommen haben, sodass deren LEDs uns den Weg weisen können.

An der letzten Hütte vor dem Tal müssen wir uns nochmal entscheiden, welchen Weg wir zurück zum Bahnhof nehmen wollen. Entweder den, auf welchem wir gekommen sind, oder einen gut zwei Kilometer kürzeren, den uns Google empfiehlt. Trotz des in der Dunkelheit nicht genau zu erkennenden Wegverlaufes, entscheiden wir uns für den Kürzeren. Zunächst ist der Pfad noch als solcher erkennbar, jedoch wuchert dieser nach der Hälfte weiter und weiter zu. Auch die Wegweiser sehen so aus, als ob sie schon etwas länger alleine in der Gegend stehen. Schließlich können wir uns einen Weg aus dem Dschungel auf eine Straße bahnen, Asphalt kann so etwas Schönes sein. Einige Meter weiter halten wir nochmals kurz inne. Am Straßen rand steht ein gut 1 m x 1 m x 2 m großer Käfig, eine recht große Lebendfalle. Wir erinnern uns an ein einziges Schild, dass wir ganz am Beginn des Aufstieges gesehen haben, welches uns vor Bären gewarnt hat. Gut, dass wir uns immer noch laut genug unterhalten und etwas Radau im Wald gemacht haben, um unliebsame Begegnungen zu vermeiden. Angekommen im Dorf müssen wir nur noch die letzten Meter über die Reisfelder schaffen, bevor wir den Bahnhof erreichen. Wir kommen auch an einem alten Getreidesilo vorbei, das vom leichten Wind anscheinend zaghaft zum Klappern gebracht wird. Je näher wir jedoch kommen, bemerken wir, dass die Geräusche eher aus der Nähe des Feldes kommen. Ein paar Meter davor erkennen wir, dass es sich wieder um eine Falle handelt, diesmal geschlossen. Ehrfürchtig beschließen wir, doch lieber den kleinen Umweg über die Hauptstraße zu nehmen, wobei Daniel und ich doch versucht sind umzukehren, um uns die Situation nochmal aus der Nähe betrachten zu können. Marcos Einwand, dass das, was auch immer in der Falle ist, nicht alleine unterwegs gewesen sein könnte, müssen wir jedoch zustimmen und beschließen, unser Glück für diesen Tag nicht überzustrapazieren. Letztlich kommen wir erschöpft, aber wohlbehalten am Bahnhof an und fahren zurück nach Nagoya. Im Gepäck haben wir fantastische und surreale Fotos, eine Abenteuergeschichte und wunderschöne Erinnerungen, die noch lange erhalten bleiben werden.

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