Montag, 30. November 2015

Herbstfarben


Da es sich in der letzten Woche bereits als bewährt gezeigt hat, den Mittwoch freizunehmen, mache ich es diesen Mittwoch gleich noch einmal. Der abgesehen vom Japanischkurs freie Unitag und die womöglich letzte Chance auf geeignetes Wetter, hat uns motiviert, nach Kyoto zu fahren, um uns dort die Herbstfarben in einigen der unzähligen Tempel und Schreine anzugucken. Zusammen mit Daniel und Chris mache ich mich frühmorgens auf den Weg zum Bahnhof, wo gleich schon das erste Highlight des Tages auf uns wartet. Heute bekomme ich nicht nur die Gelegenheit, das erste Mal nach weiter außerhalb von Nagoya zu reisen, sondern auch das erste Mal mit dem Shinkansen, dem japanischen Hochgeschwindigkeitszug, zu fahren. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von 320 Kilometern pro Stunde verbindet er alle größeren Städte Japans miteinander und ist in manchen Regionen somit sogar schneller als eine Flugverbindung. Angesichts des Vergleiches mit dem deutschen ICE oder französischen TGV zwar noch kein Alleinstellungsmerkmal, bei genauerem Blick auf die Taktung der Züge kommt ein Europäer jedoch ins Staunen. Wir haben an diesem Morgen die Wahl, entweder mit dem Shinkansen um 9:03, 9:11, 9:14, 9:23 oder 9:29 zu fahren, um nur die Verbindungen zwischen neun und halb zehn aufzuzählen. Beim Einsteigen erinnert das Innere des Zuges vielmehr an eine Flugzeugkabine. Es gibt nur kleine Bullaugen als Fenster und die Sitze sind einheitlich in Fahrtrichtung ausgerichtet, wobei die Beinfreiheit jedoch höchstens in der first class eines Airbus A380 zu finden sein müsste. Das Anfahren des Zuges ist noch so leise wie ich es zuvor aus vielen Erzählungen gehört habe, der Fahrtlärm erinnert dann doch wieder an ein Flugzeug, obwohl wir auf der 140 km bzw. 35 Minuten langen Strecke nicht einmal die Höchstgeschwindigkeit erreichen. Rein vom Komfort und der Inneneinrichtung muss ich feststellen, dass der ICE mir sogar besser gefällt, das Bahnfahrtgefühl geht bei all der Optimierung für mich etwas verloren. In Sachen Pünktlichkeit spielt der ICE im Vergleich allerdings wie erwartet mindestens fünf Ligen tiefer. Auf die Minute genau kommen wir in Kyoto an, wo wir auch zügig austeigen müssen, denn der Aufenthalt dauert nicht länger als zwei Minuten, bevor der Zug Kyoto in Richtung Osaka verlässt.
Angekommen in Japans alter Hauptstadt, streben wir gleich den ersten Schrein auf unserer langen Liste an, den Fushimi Inari. Beim ersten Anblick des Schreins bin ich zunächst ein wenig perplex. Etwas unwirklich wirkt die Szenerie auf mich, da fast ein Drittel der Besucher Westler sind. Eigentlich kein allzu ungewöhnliches Bild für einen Europäer, der seinen Kontinent erst vor zwei Monaten zum ersten Mal verlassen hat, sollte man meinen. Vermutlich ist es lediglich der erste Kontakt mit dem touristischen Japan, welches in Nagoya trotz seiner 2,6 Millionen Einwohner nicht existent ist. Schnell mischen wir uns unter die Massen und fangen an, den Berg, auf dem der Schrein errichtet ist, zu besteigen. Die Menschen drängen sich durch die hunderte von Toriis, rot lackierte Holztore, die im Abstand von nur wenigen Zentimetern hintereinander stehen. Nach etwa einem Drittel des Aufstieges dünnt sich die Masse zum Glück schlagartig aus. Vor allem die chinesischen Touristen scheinen schlapp gemacht zu haben und drehen um, so ist mehr Platz für uns und wir können in Ruhe die restliche Tempelanlage erkunden. Wieder im Tal angekommen, kaufe ich mir als Andenken noch einen Fuchsanhänger (Inari = Fuchs), an dem auch zwei kleine Glöckchen befestigt sind, optimal zur Prävention einer unerwarteten Bekanntschaft mit einem Bären auf dem nächsten Wandertrip. Bis jetzt haben im Fushimi Inari nur die zinnoberroten Torii geleuchtet, aber keine Laubbäume. Daher geht es weiter zu den nächsten Tempeln und Schreinen, welche dem Shinto, der älteren der beiden japanischen Religionen zugehören. In den Tempel wird hingegen Buddhismus praktiziert, welcher in Japan den Shinto um eine Lehre nach dem Tod ergänzt hat. Heutzutage gilt die Faustregel, dass in den Schreinen eher für die alltäglichen Dinge gebetet wird und in den Tempeln werden  formellere Anlässe, wie zum Beispiel Beerdigungen, begangen. Die Gartenanlagen der Tempel können besonders mit ihrer roten Blätterpracht überzeugen, obwohl es heute durchgängig bewölkt ist. Ebenfalls sind die ebenholzschwarzen und riesig dimensionierten Tempelhallen (eine Etagenhöhe misst bestimmt sechs Meter) absolut beeindrucken. Auch beeindruckend, jedoch nicht im positiven Sinne, ist die Besuchermasse, die sich an diesem trüben, nach drei Uhr sogar regnerischen Mittwoch durch Kyoto schiebt. An jeder Straßenecke des Tempelbezirkes, der gefühlt ein Viertel der Stadt ausmacht, stehen Sicherheitsleute, die Fußgänger und Autos aneinander vorbeischleusen. An einem sonnigen Wochenende muss hier eine gigantische Völkerwanderung stattfinden. Eine weitere Besonderheit Kyotos ist die flache Bebauung, welche gesetzlich vorgeschrieben ist. Auch dürfen keine grellen Farben im Stadtblid verwendet werden, sodass selbst ein seven eleven oder McDonalds in vornehmer Holzoptik erscheint. Wir wandern noch ein wenig durch die Gassen zwischen den Tempeln, bevor wir zum Essen in ein Tepanyaki-Restaurant gehen. Der Tepan ist eine Art flacher Grill, der direkt im Esstisch eingelassen ist, yaki bedeutet lediglich braten, sodass die Speisen entweder gleich vor den Augen der Gäste zubereitet werden oder diese zumindest am Tisch warmgehalten werden können. Sehr schmackhaft und es gibt dank touristischem Einfluss auch zum ersten Mal einen rein vegetarischen Abschnitt auf der englischen Speisekarte. Im dunklen Regen gehen wir zurück zum Bahnhof, wo wir für den Rückweg die günstigere Variante mit den Regionalzügen zurück nach Nagoya wählen, welche mit 20 € zwar nur die Hälfte kostet, jedoch aber mit zwei Stunden auch das Vierfache an Zeit braucht.


Das Wochenende beginne ich am Freitagabend zusammen mit meinem Tutor Machi, mit dem ich mich im International Office treffe. Dort werden heute japanische Spiele vorgestellt, vom traditionellen Origami bis hin zum eingebürgerten Jenga. Ich versuche mich zunächst mit den Kagome, kleinen Holzkreisen um die eine Schnur gewickelt wird, bevor der Kreisel samt Schnur waagerecht in die Luft geworfen wird, sodass sich letztere abwickelt und der Kreisel zu routieren beginnt, soweit die Theorie. Praktisch weit weniger einfach und selbst einige Japaner müssen eingestehen, es noch nie richtig geschafft zu haben, obwohl es eines der beliebtesten Spiele an Neujahr ist. Ein weiteres Spiel, welches gerne zum Jahresbeginn hervorgeholt wird, ist karita. Ein Kartenspiel, bei dem der Spielleiter ein Gedicht vorliest, dessen erste Wortsilbe erkannt werden und die zugehörige Karte zwischen den auf dem Tisch Offenliegenden gefunden werden muss. Mit etwas Glück kann sogar ein Anfänger einige Male punkten. Im Anschluss gehen die meisten der Anwesenden noch weiter zum Higashiyama Park, genauer dem Abschnitt im Botanischen Garten. Dort sind in dieser Woche nach Einbruch der Dunkelheit die hübschesten Bäume beleuchtet, wodurch die Farben der Blätter fast noch satter erscheinen als im Sonnenlicht. Das Besucheraufkommen verhält sich im Vergleich zu Kyoto ebenfalls in starken Grenzen, sodass in Ruhe Fotos von der Szenerie gemacht werden können.

Um die Woche ganz im Zeichen der Herbstfarben stehen zu lassen, machen wir auch am Sonntag zu sechst einen Ausflug in die Natur. Genauer gesagt nach Korankee einem kleinen Ort im Osten Nagoyas, welcher nur mit U-Bahn, Zug und Bus zu erreichen ist, sofern kein eigenes Auto zur Verfügung steht. Durch Korankee schlängelt sich ein kleiner Gebirgsfluss, in dem auch einige Felsen zu finden sind. Diese laden gerade nur so dazu ein, ein wenig auf ihnen herumzuklettern, was auch der Gedanke vieler Japaner ist. Aus der Mitte des Flusses hat man auch den besten Blick auf die Laubbäume am Ufer des Flusses, deren Herbstfärbung sich im Wasser widerspiegelt. Wir erkunden den nahegelegenen Tempel und die urigen Häuser im Tal, bevor es zu dämmern beginnt, denn auch in Korankee werden die Bäume abends angestrahlt. Leider jedoch nur auf die altmodisch ökologische Variante mit Natrium-Dampflampen (wie unsere gelben Straßenlaternen), welche nun einmal gemäß den Gesetzen der Physik nur einfarbig leuchten, wodurch den Blättern auch nichts anderes übrig bleibt, als in Abstufungen von gelb zu erscheinen. Da haben die LEDs im Higashiyamapark am Freitag ein schöneres Ambiente geschaffen. Trösten tun hingegen die vielen Teelichter entlang des Pfades zum Tempel, die kleine mit Mustern verzierte Bambusröhrchen ausleuchten. Bevor wir uns zurück zum Bus machen, probieren wir noch goheimochi, gerillte Reiskuchen mit Miso, eine Spezialität in Korankee, die es sogar auf die hiesigen Gullideckel geschafft hat. Gestärkt und zufrieden steigen wir in den Bus zurück nach Nagoya.

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